Können wir ohne Anstrengung lernen? Oder müssen Kinder zum Lernen gezwungen werden? Diese Frage beschäftigt die Pädagogik. Da Lesen die zentrale Fähigkeit in unserer Gesellschaft darstellt, müssen wir hier besonders achtsam sein. Fragen wir daher nochmal: Muss Leseunterricht Spaß machen oder nicht?
Lesen war zu meiner Schulzeit geprägt von sturem Auswendiglernen. Die ersten Tage in der Schule glichen der Zombieapokalypse. Alle starrten mit leeren Blicken auf Buchstabenreihen und wiederholten im Chor „Mimi im Haus“. Kein Wunder, Schule habe ich vom ersten Moment an gehasst. Ich wollte lesen lernen, hatte Motivation, aber es war als würden alle mit einem LernLamborghini im Stau festsitzen.
Auch meine Mutter wollte mir die Buchstaben nicht schneller beibringen. Womöglich hatte sie Angst, dass ich mich dann in der Schule noch mehr langweilen würde. Dieses ganze Wiederholen von irgendwelchen Buchstabenreihen lief mir zuwider. Die Konsequenz? Bis zum Alter von 15 Jahren war ich stolz, nur 2 Bücher in meinem Leben gelesen zu haben. Lesen verband ich mit Anstrengung.
Im Folgenden Beispiel zeigt eine Kindergartenlehrerin nun, wie Kindern bereits im Alter von 3 Jahren spielerisch Lesen lernen und dies ohne viel Aufwand, sondern vor allem durch Spiel.
Spielerisch lesen lernen. Klingt fortschrittlich. Eigentlich gibt es doch einen breiten Konsens, dass Lernen Spaß machen muss. Was könnte daran also falsch sein? Und warum machen wir es nicht überall?
Meines Erachtens stellen wir uns hier eine gesellschaftliche Falle. Erstens, fangen wir alle immer früher an, unsere Gehirne trainieren zu wollen. Dies sind starke Eingriffe in unsere Möglichkeiten unser Leben nach eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Nur eine ausgeprägte Bildungskarriere kann uns unserer Gegenwart noch glücklich machen. Wie für den Sportler der athletische Körper so geht es für die Eltern um das athletische Gehirn ihres Kindes. Insgesamt entsteht so zweitens ein gesellschaftlicher Sog, der sich zum Beispiel an Kulturen wie Südkorea bereits beobachten lässt. Meine koreanischen Mitbewohner haben mir diesbezüglich beschrieben, wie sie täglich nach der Schule zur Schule gingen. Wer nicht zur „Cram-School“ ging, der hatte bereits im Unterricht Nachtteile. Obwohl Korea dabei eine ökonomisch gut situierte Kultur besitzt, sind die Einwohner dabei nicht glücklicher als in so manchen Schwellenländern:
Südkorea – Welthappiness-Index
Date | World Happiness Ranking | World Happiness Index |
---|---|---|
2018 | 57º | 5.875 |
2017 | 56º | 5.838 |
2016 | 58º | 5.835 |
2015 | 47º | 5.984 |
2013 | 41º | 6.267 |
(Quelle: https://countryeconomy.com/demography/world-happiness-index/south-korea)
Der Leistungsanspruch in Korea ist enorm. Es entsteht eine gesellschaftliche Bildungspanik. Das „Geschäft mit der Bildungspanik“ führt dann drittens zu Angeboten auf die ahnungslose Ungebildete hereinfallen. Das Dilemma ist folgendes: Akademiker wissen bereits intuitiv, welche Strategien ihre Kinder effektiv vorbereiten. Bereits der intellektuelle Umgang zu Hause bringt so viele Softskills, die für das Lernen wichtig sind. Nach den Gutsituierten kommen dann alle, die sich versuchen in einem freien Bildungsmarkt zu orientieren, aber nicht das gleiche Wissen haben. Sie schicken ihre Kinder dann auf nutzlose Spezial-Schulen oder brummen ihnen sinnlose Extra-Kurse auf. Dazu könnten auch die Angebote gehören, die vermitteln, dass Lernen mit Spaß zu tun hat.
Vor der Frage nach dem richtigen Lernprinzip stellt sich jedoch erst noch die Frage: was bringt es, wenn Kinder bereits im Kindergarten lesen können und ist dies wirklich ein Vorteil?
Beim frühen Englisch-Unterricht im Kindergarten hat sich gezeigt, dass andere, ungeförderte Kinder den Rückstand innerhalb von 6 Wochen aufholen. Im Tagesspiegel heißt es hierzu: „Die Kinder lernen in Klasse 3 und 4 so wenig, dass sich das innerhalb von sechs Wochen zu Beginn der Klasse 5 nachholen ließe.“ Der Englisch-Forscher Dieter Mindt (Freie Universität Berlin) sieht das Problem gar in der Beschränkung „auf den spielerischen Umgang mit der Sprache“. Die frühkindliche Englischförderung sei daher vertane Zeit. Die Psychologin Elsbeth Stern gibt daher auch an:
„Es ist etwas anderes, wenn ein Kind zweisprachig aufwächst oder in einen bilingualen Kindergarten geht, dann ist die fremde Sprache Bestandteil des Alltags und wird ganz selbstverständlich und spielerisch erlernt“ (Zeitartikel)
Das generelle Problem am Sprachunterricht sei, dass er weniger mit dem Alltag zu tun habe und ohnehin zu selten stattfinde: „Ich bin mir sicher, dass die Effekte vernachlässigbar sind.“ Auch Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, ist skeptisch: „Die Lehrer müssen im Gymnasium noch einmal von vorn anfangen. Auf den Ergebnissen des Grundschulunterrichts, so wie er zurzeit stattfindet, lässt sich kaum aufbauen.“ (Zeitartikel) Für Meidinger sei der Unterricht zu verspielt.
Zwar wird der „fremdsprachliche Frühbeginn“ oftmals positiv betont, Forschung gibt es zum positiven Nutzen gibt es jedoch wenig (nach Nils Jäkel vom Bochumer Lehrstuhl Didaktik des Englischen). Nils Jäkel analysiere so die Daten von 5.130 Schülerinnen und Schülern.
„Die Forscher verglichen zwei Schülerkohorten, von denen eine in Klasse eins, die andere in Klasse drei mit dem Englischunterricht begonnen hatte. Jeweils in den Klassen fünf und sieben erfassten sie das englische Lese- und Hörverständnis der Kinder. In der fünften Klasse schnitten diejenigen Kinder besser ab, die früh mit dem Englischunterricht in der Grundschule begonnen hatten. Das änderte sich in der siebten Klasse. Nun waren die Leistungen der Spätstarter, die erst in der dritten Klasse in die Fremdsprache eingestiegen waren, besser. Unsere Studie bestätigt Ergebnisse aus anderen Ländern, zum Beispiel Spanien, die zeigen, dass der Frühbeginn mit ein bis zwei Stunden Englischunterricht pro Woche bei Grundschülern auf längere Sicht nur wenig zur Sprachkompetenz beiträgt“, sagt Jäkel. In den kommenden Monaten werden er und seine Kollegen weitere Daten auswerten, um zu überprüfen, ob sich das Ergebnis in der neunten Klasse bestätigt.“ https://news.rub.de/presseinformationen/wissenschaft/2017-05-08-grundschule-frueher-englischunterricht-weniger-effektiv-als-erhofft
Frühstarter sind nun gar im Nachteil, weil „ihre natürlichen Sprachlernmechanismen“ durch den seltenen Unterricht gestört werden würden. Grundschüler lernen langsamer als Kinder mit 10. In der Zeit wird hier auf eine weitere Langzeitstudien von Carmen Muñoz, Professorin an der Universität Barcelona verwiesen: „Nach derselben Anzahl von Jahren zeigten die älteren Starter bessere Ergebnisse als die jüngeren. Wir führen das auf ihre größere kognitive Reife zurück und darauf, dass die jüngeren Lerner der Fremdsprache nicht stark genug ausgesetzt waren.“ (Zeitartikel)
All diese Beispiele zeigen, dass auch bei der Frage nach Bildung sehr viele Fallstricke zu berücksichtigen sind. Unsere Intuition sagt uns, wenn Kinder etwas früher lernen, können sie es später besser. Diese Intuition bewahrheitet sich beim frühen Englisch-lernen leider nicht. Auch die These, dass Kinder spielerisch lernen müssen, erfährt hier ihre ersten Kratzer. Forschung wie so oft ist ernüchternd.
Die Zeit, die Lehrer bereits im Kindergarten auf Bildung verwenden, könnte vertane Zeit sein. Es ist allerdings unglaublich schwer zu beurteilen, da sich die Effekte ja erst nach einer langen Bildungskarriere von 20 Jahren bemerkbar machen. Und subjektive Selbstbeobachtung? Die Quacksalberindustrie lässt grüßen.
Die Frage stellt sich: Hatte der spätere Hochschulerfolg dann etwas mit der frühkindlichen, spielerischen Erziehung zu tun? Wer hier sofort „Ja“ ruft und mit fröhlicher Überzeugung seine Standard-Coaching-Statements abgibt, dem sollte man eher weniger Vertrauen schenken.
Die Leselehrerin aus dem obigen Video verweist auf Belege, dass Kinder so mit weniger Stress in die Schule starten. Offensichtlich behauptet sie aber nicht, dass Kinder durch das Lesen einen Vorteil hätten. Eine amerikanische Firma, die ein ähnliches Lesesystem für Babys propagierte, musste sich vor Gericht verantworten (Artikel). In einem Vergleich von 2013 heißt es schließlich:
[party A] „prohibits Titzer and his company from making any unsubstantiated claims about the performance or efficacy of any product that teaches reading. It also prohibits them from using the term “Your Baby Can Read,” bars them from misrepresenting the results of any tests or research, and prohibits Titzer from endorsing any product unless he has a reasonable basis for the claims made. Finally, the order imposes two monetary judgments against Titzer and his company totaling more than $185 million, which will be suspended after he pays $300,000.“ (Vergleich hier nachlesen)
Ich fasse zusammen: Der Term „Dein Baby kann lesen“ oder die Behauptung, dass das Produkt in irgendeiner Weise effektiv Lesen fördern würde, ist unter Auflagen verboten. Die Auflagen beinhalten eine Strafzahlung von 185 Million Dollar, welche ausgesetzt wird (wenn ich richtig verstehe), insofern die Firma dem Kläger 300.000 Dollar zahlt.
Es gibt keine fundierte Forschung im der Lesefrühförderung. Daher ist es sinnvoll folgende These für die oben genannte Methode anzunehmen: Babys lernen maximal die Form der Worte, nicht aber das Lesen. Dies bedeutet konkret, dass Kinder später etwas können, was ihnen allerdings nicht beim Lesen hilft. Hilft es ihnen aber mit weniger Stress in die Schule zu starten, wie die Erzieherin oben behauptet? Wer kann das beurteilen?
Im Focus findet sich dann ein anderer Artikel zum Lesen-lernen. Hier lernen Kinder das Lesen durch stures Wiederholen (so wie ich). Hier zeige sich, dass selbst lernschwache Kinder schnell die Leselücken schließen und aufholen (Focusartikel). Genau hier entspringt auch meine Unsicherheit. Vielleicht ist es der Wunsch nach kreativem Lernen6, der mein Urteilsvermögen beeinflusst. Vielleicht erzeugt dieser Wunsch nur die Illusion des Lernens?
Denken wir uns folgende Szenarien: Der Schüler kommt nach Hause und ruft. Das hat heute richtig Spaß gemacht und da lernt man auch was. Oder der Student sagt: Der Dozent ist so frisch und humorvoll. Bei dem habe ich richtig was gelernt. Der Kruger-Dunning-Effekt lässt grüßen, das heißt, beherrschen wir die zu erlernende Fähigkeit nicht, ist unsere Selbsteinschätzung für die Katz. Wer garantiert denn, dass Gefühl etwas gelernt zu haben, tatsächlich mit dem Lernen in Zusammenhang steht?
Ich glaube es ist gut, wenn Lernen auch noch Spaß macht. Aber ich glaube auch, dass das ein Bonus ist. Wenn wir uns beim Lernen niemals selbst überwinden müssen, so lernen wir auch nicht mit eigenen Grenzen umzugehen. Wenn ich etwas nicht kann, aber durch konsequente Selbstüberwindung, das heißt durch Selbstdisziplin, dann doch die Fähigkeit erwerbe, dann gewinne ich Selbstvertrauen. Gehe ich aber immer nur im Spiel um die Dinge herum, so erlebe ich keine Grenzen und womöglich wachse ich auch nicht.
Muss man also stets die Comfort-Zone pushen? In der NewYorkTimes argumentiert man für eine Mittellösung:
“If you’re too comfortable, you’re not productive. And if you’re too uncomfortable, you’re not productive. Like Goldilocks, we can’t be too hot or too cold.” (NYT-Article)
Nun ich bin mir nicht sicher, aber wir sollten folgende These nicht gleich über Bord werfen: „Kinder lernen beim Pauken vielleicht auch Selbstdisziplin.“ Auch als Erwachsener möchte ich noch lernen, aber ich bin mir bewusst, dass ich mich dazu häufig überwinden muss.
Der Coaching-Markt wimmelt jedoch von Trainern und Pädagogen, die ohne genaues Fundament das Gegenteil vehement behaupten. Mathematik, Lesen, Schreiben und Argumentieren würden wir so ohne Druck ganz spielerisch erlernen. So behauptet es auch der Pädagoge in folgendem Video: „Kinder würden eher lernen als Essen und Kinder würden lieber lernen als Spielen. Tatsächlich denken Kinder Lernen ist Spielen.“ Die Argumente sind plausibel. Für alle, die des Englischen mächtig sind, ist hier das Video, um sich von der Plausibilität der Aussagen einlullen zu lassen. Vorsicht ist geboten: Plausibilität bedeutet aber nicht, dass das Argument auch wahr ist.
Offensichtlich stellen wir nun zwei Lernmodelle gegenüber:
1. Lernen ist etwas natürliches und wir müssen unser Kinder nur zu diesem Lernen ermutigen. Wir müssen sie beim Lernprozess schlichtweg begleiten und ihnen Hilfestellung geben. Spielen ist Lernen. Wir sind Lerncoaches oder wie Precht es nobel verpackt: Potenzialentfaltungschoaches.
2. Kinder wollen zwar durchaus auch Lernen. Bei vielen Lernformen aber geht es auch um Selbstdisziplin, das heißt der Selbstüberwindung zu einem Ideal. Hier müssen wir Kinder erziehen, damit sie bereit sind für die Anforderungen, die eine Menschheit im Lichte verschiedener Krisen zu bewältigen hat.
Nun ich habe mich noch nicht entschieden. Was denkt ihr? Welches Modell ist richtiger? Und noch wichtiger, wie garantiert ihr für dessen Wahrheit?
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Dr. Norman Schultz, März 2019, Neubrandenburg
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